Peter Jeker

Die Geschichte der Ohrtherapie

Das Wissen des Hippokrates

Wann und wo erstmals die Ohrmuscheln therapeutisch genutzt worden sind, ist nicht mehr nachvollziehbar. Der älteste Bericht stammt von dem 460 v.Chr. auf der griechischen Insel Kos geborenen Hippokrates. (Er war somit ein Zeitgenosse des Chinesen Konfuzius.) Nach seiner Ausbildung, die ihn u. a. auch nach Ägypten führte, übte er seine Heilkunst auf der Wanderschaft durch Griechenland aus und gründete später auf Kos eine medizinische Akademie. Er gilt deshalb als «Stammvater» der Ärzte, denn bis zu diesem Zeitpunkt waren alle gesundheitlichen Belange den Priestern vorbehalten.

An seiner Akademie lehrte er das althergebrachte Erfahrungsgut der Babylonier, Ägypter und Inder, ergänzt durch eigene Beobachtungen und Erfahrungen. So hatte er beispielsweise während seiner Lehrzeit in Ägypten, Aderlässe an den Ohrvenen kennengelernt. Für diese Behandlung gab es viele Indikationen, u. a. soll damit auch Unfruchtbarkeit bei Männern und Frauen erzielt worden sein.

In einem seiner Bücher schreibt er:

«(...) diejenigen, die am Ohr geschnitten wurden, können zwar Geschlechtsverkehr haben und auch ejakulieren, haben aber nur eine geringe Menge schwachen und unfruchtbaren Samen.»

Des Weiteren empfiehlt er Aderlässe am Ohr bei Entzündungen bestimmter Körpergebiete und Organe.

Der Wissensstand zur gleichen Zeit in China

Etwa aus der gleichen Zeit stammt das Nei-King, das erste bekannt gewordene und sehr ausführlich gehaltene chinesische Lehrbuch der Medizin. In ihm werden die Grundlagen der Energielehre, der Akupunktur, Behandlungsanweisungen und Punkt­lokalisationen beschrieben. Allerdings werden im Nei-King nur zwei Akupunkturpunkte in der Nähe des Ohres erwähnt. Es handelt sich um die Endpunkte des Dreifachen-Erwärmers und der Dünndarm-Leitbahn. Die Ohrmuschel war zu dieser Zeit also kein Behandlungsort und von einer speziellen Ohrbehandlung zur da­maligen Zeit kann somit keine Rede sein.

Der Sinologe Prof. Dr. Manfred Porkert kommt in seinem Buch «Die Entwicklung der Ohrakupunktur aus chinesischer Sicht» zu dem Schluss, dass die Ohrakupunktur, das Werk Dr. Paul Nogiers, einem praktischen Arzt aus Lyon sei und erst in neuester Zeit in China bekannt wurde. Er schreibt:

«Die von Nogier geschaffene Aurikolotherapie ist eine, in sich abgeschlossene Behandlung, die in ihren theoretischen Forderungen und praktischen Verrichtungen weit über das hin­ausgeht, was von der Akupunktur Chinas beschrieben und behandelt wird.»

Begründer der modernen Aurikolotherapie ist Dr. Paul Nogier. Er darf, darin ist Porkert Recht zu geben, als der eigentliche Initiant der Aurikolotherapie gelten. Ihm waren in den 50er Jahren des letzten Jahrunderts, Narben in den Ohrmuscheln seiner Patienten aufgefallen. Seine Befragungen ergaben, dass es sich um die Spuren einer, von Zigeunern oder Berbern durchgeführten, Ischiasbehandlung handelte. Eine bestimmte Stelle der Ohrmuschel war, auf der Körperseite der Beschwerden, mit einem glühenden Eisenstab verbrannt (kauterisiert) worden. Übereinstimmend wurde ihm berichtet, dass sich danach die Beschwerden in kürzester Zeit, oftmals schon während der Behandlung, sehr deutlich gebessert hätten. Die Tatsache der «sekundenphänomenartigen Reaktion» erweckte Dr. Nogiers Interesse und er kauterisierte bei Ischialgien die Ohrmuschel ebenfalls erfolgreich. Später wechselte er auf andere, weniger barbarische Mittel.

Deshalb erscheint es nicht nur aus Gründen der historischen Wahrheit, sondern ebenso im Hinblick auf die methodische Klarheit und Sauberkeit geboten, die Originalität und methodische Eigenständigkeit der Aurikolotherapie, im Vergleich zur Akupunktur deutlich zu machen.

Neuere Arbeiten

W. Buchholz schreibt in einem Aufsatz: (Naturheilkunde 4 - 1979), dass erst 600 bis 900 n.Chr. in China eine primitive Form der Ohrakupunktur bekannt wurde. Den Chinesen waren zur damaligen Zeit etwa 20 Punkte auf der Vorder- und Rückseite des Ohres bekannt. In China fand die Ohrakupunktur zunächst nur wenig und dann keine Beachtung, um dann wieder gänzlich zu verschwinden. Sie geriet 900 n.Chr. völlig in Vergessenheit. Buchholz vermutet, dass diese Behandlungsform aus dem arabischen Raum, auf den Wegen der Handelskarawanen, nach China gelangt ist. Dafür spricht auch der Umstand, dass die Behandlung der Ohrmuscheln auch bis heute Bestandteil der Volksmedizin im Iran und im Irak ist. Gestützt wird diese These von einer starken Verbreitung dieser Behandlungsmethode in der iranischen und irakischen Volksmedizin.

Steck- und Nähnadeln waren die ersten Werkzeuge des Dr. Nogiers, und auch mit ihnen konnte er ebenfalls die angestrebten Wirkung erzielen, ohne schmerzhafte Wunden zu hinterlassen. Durch die überwiegend positiven Behandlungsergebnisse, die er ohne Kauterisation erzielte, glaubte Dr. Nogier sich auf wissenschaftlichem Neuland. Dennoch durchforschte er die Literatur der Vergangenheit. Neben den Informationen aus alten Schriften und neben Hippokrates' Texten fand er weitere Arbeiten:

  • Dr. Zacatus Lusitanus, portugiesischer Arzt, beschreibt 1637 die Behandlung von Lumbalgien und Ischialgien durch Kauterisation der Ohrmuschel.
  • 1717 berichtet der italienische Arzt Dr. Valsalva über erfolgreiche Kauterisation der Ohrmuschel bei Zahnschmerzen.
  • 1910 schreibt Prof. Colla aus Parma über einen Mann, der von einer Biene in das Ohr gestochen wurde und darauf eine vorübergehende Beinlähmung entwickelte. Auch in diesem Aufsatz wird die Kauterisation der Ohrmuschel bei Ischialgien erwähnt.

Um 1850 gab es in Frankreich ganze Serien von Publikationen zu diesem Thema. Für etwa 10 Jahre schien eine «Ohr-Euphorie» zu bestehen. Zumindest spricht die Vielzahl der in dieser Zeit veröffentlichten Publikationen dafür. Dennoch geriet diese Behand­lungsform nach verhältnismässig kurzer Zeit wieder in Vergessenheit. Anscheinend war die wissenschaftliche Unerklärbarkeit Grund für die Ablehnung der Methode. Die auch damals von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen geprägte Medizin hatte keinen Platz für die nicht nachvollziehbare nicht einordenbare Erfahrungsheilkunde. Somit verblieb die Reizung der Ohrmuschel wieder den Zigeunern und einzelnen Volksheilkundigen vorbehalten.

Auch Dr. Nogier konnte keinerlei wissenschaftliche Begründungen für seine Behandlungserfolge anführen. Ihm als Praktiker war das Behandlungsergebnis wichtiger als eine wissenschaftliche Erklärung. Er machte weitere Versuche, in der Hoffnung, über die Ohrmuscheln auch andere Körperregionen und Organe beein­flussen zu können. Seine Kenntnis von der Chiropraktik brachte ihn dann schliesslich auf den richtigen, weiterführenden Gedanken:

Da eine Ischialgie, nach Ansicht der Chiropraktik, auf eine Stellungsveränderung des 5. Lendenwirbels zurückgeführt wird kam ihm die Idee, dass die Behandlungsstelle in der Ohrmuschel als Reflexzone dem 5. Lendenwirbel zuzuordnen sei.

Die Antihelix schien ihm der Wirbelsäule zu entsprechen. Weiterhin hatte er die intuitive Vorstellung, nach der die Ohrmuschel einem Embryo entsprach. Daraus entstand eine grobe Zuordnung der Ohrzonen und deren zugehörigen Körperregionen. Diese Annahme erwies sich für die Folgezeit als durchaus brauchbar. Beschreibungen von Reflexpunkten gelangen ihm immer präziser, und Behandlungserfolge traten mehr und mehr ein.

Allerdings scheiterten zunächst seine Versuche, diese Beobachtungen der Kollegenschaft mitzuteilen. Die übrige Gilde der Mediziner konnte den neuen Ideen ihres Kollegen nichts abgewinnen. Kaum jemand interessierte sich dafür. 1955 sprach Nogier den französischen Akupunkteur Dr. Niboyet an, der zu diesem Zeitpunkt als unumstrittener Meister der Akupunktur in Frankreich galt.

Der Weg nach China und zurück nach Europa

Dr. Niboyet war von der Arbeit Nogiers angetan und ermutigte ihn, seine Erkenntnisse den ärztlichen Akupunkteuren Frankreichs zugänglich zu machen. Nogier berichtete über seine Therapie auf dem 1. Kongress französischer Akupunkteure 1956.

Sein Vortrag wurde von Dr. Bachmann, dem damaligen Herausgeber der «Deutschen Zeitschrift für Akupunktur» übernommen und so in den deutschen Raum getragen, von wo er in der UdSSR und anderen Ländern weitergetragen wurde. Der Kreis schloss sich, als Dr. Haiao Lin in der «Shanghaier Zeitschrift für chinesische Medizin» auf die Forschungen Nogiers einging.

Der russische Professor Wrogralik zitierte Nogiers Aufsatz 1957 in seiner Forschungsarbeit über die Grundlagen der Akupunktur in der UdSSR.

Der 1958 in der «Shanghaier Zeitschrift für chinesische Medizin» veröffentlichte Bericht war Anlass zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft für Ohrakupunktur in Shanghai. In dieser Arbeitsgemeinschaft waren neun Ärzte der Stadt tätig. Sie bestätigten die Beobachtungen Nogiers weitgehend und fügten nun eigene Erfahrungen hinzu.

Die Erfolge waren auch in China beeindruckend und darüber hinaus wurden sie mit sehr geringem Aufwand erreicht, so dass die Grundlagen dieser Methode auch den «Barfussärzten» vermittelt wurde. Bei «Barfussärzten» handelte es sich nicht um studierte Mediziner, sondern um Laienhelfer. Barfussärzte sind vergleichbar mit hiesigen Sanitätern. Sie wurden in den chinesischen Kommunen und staatlichen Betrieben eingesetzt und hatten neben der Ersten Hilfe die Aufgabe, die Bevölkerung mit hygienischen Belangen vertraut zu machen. Durch den Einsatz der Ohr­akupunktur konnten in China die ohnehin knappen und teuren Medikamente zu einem beachtlichen Teil eingespart werden.

In der heutigen Zeit wird in China zwar weitgehend die Topographie der Ohrmuschel des Dr. Nogier verwendet, aber niemand kennt dort seinen Namen. Weiterhin sind auch die theoretischen Überlegungen, die Befundungsmethoden der Aurikolotherapie und das daraus abgeleitete Behandlungsvorgehen im heutigen China unbekannt. Man ist dort überzeugt, dass es sich dabei um eine urchinesische Behandlungsmethode handelt.

Mao Tse-tung soll sich in diesem Zusammenhang wie folgt geäussert haben: «Die Vergangenheit soll der Zukunft dienen und ausländische Dinge sollen China dienen». Er hat damit offensichtlich auf die relativ kurze Zeit in der Vergangenheit der chi­nesischen Geschichte hingewiesen, in der die Behandlung der Ohrmuscheln auf Grund arabischer Einflüsse praktiziert worden war und hat im zweiten Teil seiner Äusserung offenbar indirekt auf die Verdienste des Dr. Nogier hingewiesen.

Das chinesische Gesundheitsministerium liess für die Ausbildung der Barfussärzte Anschauungstafeln in stark vereinfachter Darstellung herausgeben. Tafeln, die nun wieder nach Europa gelangten, wo sie als Beweis für die Existenz einer chinesischen Heilmethode aufgenommen wurden. Die «original chinesische Ohrakupunktur» kam dadurch im Westen zu grosser Verbreitung.

Die Weiterentwicklung der Aurikolotherapie

Nogier entwickelte u. a. erfolgreich Methoden, die mit Mikroströmen die selben Ergebnisse zu zeitigen geeignet waren, wie das frühere Kauterisieren. Er bewies damit, dass nicht der Schmerzreiz als unspezifischer Stoss in das System wirkt, sondern dass bestimmte Ohrpunkte definierbare Wirkungen an spezifischen Orten haben.

Auch mit Massagereizen der Ohrmuschel hat Dr. Nogier experimentiert, jedoch offenbar nicht besonders gute Erfahrungen damit gemacht, denn er schreibt: «In der Praxis sind Massagen der Ohrmuschel selten, wegen der Schwierigkeiten, die sich aus der Kleinheit der Ohrmuschel ergeben. Weiterhin wegen zu starker (!) Reaktionen.»

Die Ohrakupunktur im heutigen China

In China wurden zwar die Lagebeschreibungen der Ohrzonen von Dr. Nogier übernommen, nicht aber dessen Behandlungsideen. Ein Charakteristikum der Aurikolotherapie nach Nogier ist die damit verbundene Diagnostik und das sich daraus ergebenen Behandlungsvorgehen. Es wird dabei sinngemäss zwischen zu sedierenden und zu tonisierenden Arealen der Ohrmuschel unterschieden. Die Aurikolotherapie Nogiers unterscheidet sich dadurch von der in China praktizierten Ohrakupunktur gravierend. Bei der Ohrakupunktur werden die zu behandelnden Punkte nach der Lokalisation der bestehenden Beschwerden ausgewählt. So wird im Lehrbuch «Die Quintessenz der chinesischen Akupunktur und Moxibustion» der Pekinger Universität in Bezug auf die Auswahl der Punkte empfohlen, z. B. bei Magenbeschwerden den Magenpunkt, bei Kniebeschwerden den Kniepunkt oder bei Schulterbeschwerden den Schulterpunkt zu behandeln. Es werden dabei weder die zumeist unterschiedlichen energetischen Zustände der gestörten Strukturen berücksichtigt, noch die tatsächlichen Ursachen der Beschwerden bedacht und dementsprechend auch nicht in die Behandlung einbezogen. Es handelt sich somit um eine rein symptomatische Behandlungsform, bei der die tatsächlichen Ursachen der Erkrankungen unberücksichtigt bleiben.

Eine weitere in China praktizierte Ohrakupunktur besteht darin, mit einer Kugelsonde in den Ohrmuscheln der Patienten druckempfindliche Zonen aufzusuchen und diese dann mit einer Dauernadel oder einem Sesamkorn zu belegen. Den Patienten werden so zwischen 20 und 80 Nadeln pro Ohrmuschel gesetzt, womit jeder empfindliche Punkt gewissermassen ruhig gestellt wird. Die Patienten erhalten die Anweisung, bei erneutem oder verstärktem Auftreten der Beschwerden die Ohrmuschel leicht zu reiben. Man ist offensichtlich der Meinung, dass durch die Aus­schaltung aller nicht der Norm entsprechenden Ohrzonen Gesundheit zu erzwingen sei.

Die Energetik der Ohrmuschel

Die Energetik der Ohrmuschel ist bis heute in der Literatur unberücksichtigt geblieben. Ohrzonen werden als Reflexzonen angesehen und ihre Wirkung wird als Reflexgeschehen erklärt. Tatsache ist hingegen, dass Ohrzonen ihre eigene Energetik haben, und dass eine Behandlung nur unter Beachtung dieser energetischen Voraussetzungen optimal sein kann.

Die Ohr-Reflexzonen-Kontrolle nach Radloff beachtet diese energetischen Gesetze und Regeln und setzt sie in die Behandlung des Körpers um. Das bedeutet für die Praxis, dass Behandlungen über die Ohrzonen nicht oder nur in sehr seltenen Ausnahmefällen vorgenommen werden. Diese Ausnahmen betreffen Situationen zur ersten Hilfe und seltene Tests um Zusammenhänge erkennen zu können. Um es nochmals zu sagen, eine Behandlung über die Ohrmuscheln findet bei der APM nach Radloff nicht statt, weil sie sich symptomatisch aber nicht ursächlich auswirken könnte. Ohrzonen werden deshalb zur Hinweisgebung auf die zu behandelnden körperlichen Strukturen genutzt.