Josef Viktor Müller

Die Lebensphasen und ihre Themen im Lichte der Meridianuhr

Die seelische Landkarte der klassischen chinesischen Medizin in Form der Meridianuhr bietet ein Orientierungssystem der körperlich-geistigen Entwicklung. Hier werden Phasen beschrieben, in denen bestimmte Entwicklungsschritte von Körper und Seele gemacht werden müssen.

1. Erdenzweig: Gallenblase – Empfängnis

Betrachtet man das Leben als einen großen Tag, der in 12 Phasen eingeteilt ist, so kann man die Meridianuhr zur Erklärung der einzelnen Lebensphasen heranziehen. Darin entspricht die Gallenblase als erster Erdenzweig und erster Himmelsstamm dem Anfang des Tages, des Jahres und des Lebens in immer größeren holographischen Zuordnungen.

Der Anfang des menschlichen Lebens ist der Zeitpunkt der Konzeption bzw. der Empfängnis. Hier sieht man die impulsgebende Kraft der Gallenblase in der Tiefe der Essenz, die amAnfang des Lebens steht. Im Jahreszyklus bezeichnet das zugeordnete Hexagramm 24 die Wintersonnenwende bzw. die Wiederkehr. Es ist die Wiederkehr ins materielle Leben inmitten der Dunkelheit – der unsichtbare Beginn eines neuen Lebens- zyklus, wenn man das Leben als zyklisch begreift. Der Donner unter der Erde schildert den impulsiven Moment der Zeugung, die die Kraft für den Neuanfang darstellt.

Liu I Ming, ein daoistischer Meister der Drachentorschule, beschreibt die 7 Stufen der Entfremdung vom Dao in der ersten Hälfte des Lebens vom Erdenzweig 1 (der Gallenblase) bis zum Erdenzweig 7 (dem Herz). (Wiedergegeben von Lonny Jarrett in Nourishing Destiny)

Am Anfang gibt es nur «menschliche Form, aber kein menschliches Bewusstsein». Der Mensch befindet sich noch sehr nahe einem Zustand der Einheit, sofern diese Entwicklung ungestört vor sich geht. Das Ziel der inneren Alchemie/Nei Dan ist diese Rückkehr zu einem einheitlichen Zustand, der in dem Zen-Ausspruch zum Ausdruck kommt: «Zeig mir das Gesicht vor deiner Geburt.» Jedoch kann es bereits zum Zeitpunkt der Empfängnis zu Störungen kommen. Die offensichtlichste Form davon ist natürlich das Down-Syndrom, das in einem sehr frühen 2 Stadium der menschlichen Entwicklung zu Missbildungen führt, oder es kommt zu gehäuft auftretenden genetischen Defekte in der Ahnenreihe.

Der Ausspruch «Wenn zwei Essenzen sich vereinen, kommt Shen herbei.» im Ling Shu, Kapitel 8 bedeutet, dass wir von den Ahnen übernommene Erfahrungen und genetische Muster als irdisches Erbe zur Verfügung gestellt bekommen, in das sich unser himmlisches Erbe oder der Lehrplan der Bestimmung hineinbegibt. Die Gallenblase gibt den Impuls für neues Leben, daher ist sie auch das Korrektur-Organ für falsche Entscheidungen, die dem Leben zuwider laufen. Bis hierher kann man in der Entwicklung zurückgehen, wenn das Leben einer radikalen Veränderung bedarf und von Grund auf neu aufgebaut werden muss. Daher stammt die Devise des Yi Jing: «Zurückgehen, um voranzukommen». In dieselbe Richtung zielt das Zen Koan: «Zeig mir das Gesicht vor deiner Geburt». Es bedeutet, zurückzugehen zur ursprünglichen Intention und dadurch eine Art Neuschöpfung und Wiedergeburt zu erfahren. Die Gallenblase macht dazu Kontakt mit allen Außerordentlichen Fu, wo die Lebenserfahrung eingespeichert ist, und löst destruktive Eindrücke heraus, wenn diese der Entfaltung von Bestimmung entgegenstehen. Dazu bedarf es jedoch einer tiefen Entscheidung zur Veränderung.

2. Erdenzweig: Leber – Schwangerschaft

Der 2. Erdenzweig umfasst die Schwangerschaftsperiode. Damit ist klar, dass die den 12 Lebensphasen zugeordneten Meridiane nicht immer den gleichen Zeitraum abbilden, aber in ihrem prägenden Einfluss gleichwertig sind.

Dass die Phase der Schwangerschaft bis hin zur Geburtseinleitung der Leber untersteht, wird auch im zugeordneten Sternzeichen des Ochsen ausgedrückt, das soviel bedeutet wie schwere Lasten tragen oder eben das Austragen. Die Schwangerschaft ist somit eine Periode des Jue Yin, des extremen Yin, in der das Yang noch verborgen unter der Erde ruht.

Schwangerschaft stellt zwar keine Krankheit dar, aber Akupunktur und besonders Moxa sind Behandlungsmethoden, die in dieser Phase den Prozess optimal unterstützen können. Dabei wird Qi besser über die Akupunktur behandelt und Blut mit Moxa reguliert. Die Pulse werden in der Schwangerschaft insgesamt schneller und schlüpfriger und ab dem dritten Monat werden sie in der proximalen Position stärker, welche dem unteren Erwärmer entspricht.

Die Schwangerschaft wird ab dem Datum der letzten Menstruationsblutung berechnet und in drei Trimester eingeteilt. Im ersten Schwangerschaftsdrittel kommt es zu starken hormonellen Umstellungen. Um diese auszugleichen, benutzt man am besten den Shu-Punkt des Dreifachen Erwärmers, der das Hormonsystem reguliert. Da die Schwangerschaft vorne stattfindet, wird am besten hinten über die Shu-Punkte behandelt. Für die Morgenübelkeit, die in dieser Phase häufig vorkommt, setzt man Chong Mai ein, indem man Mi 4 (als Öffnungspunkt) mit je 5 Moxa und Pe 6 (als Koppelungspunkt) mit je 3 Moxa behandelt.

Zusätzlich behandelt man Ma 36 und jeden Schmerzpunkt entlang der Magen-Leitbahn am Unterschenkel. Im zweiten Schwangerschaftsdrittel kommt es zur vermehrten Blutproduktion und der Fötus zieht das Eisen aus dem Blut der Mutter. Hier werden insbesondere Bl 17 und Bl 43 mit Reiskornmoxa zum Blutaufbau benutzt, um eine Anämie vorzubeugen. Ab dem dritten Monat, also im dritten, sechsten und neunten Monat, wird in jedem Trimester einmal Ni 9 («Den Gast aufbauen») mit 5 Reiskornmoxa behandelt, um Schwangerschaftstoxine auszuleiten.

Im dritten Schwangerschaftsdrittel kommt es vermehrt zu Herzklopfen und Atembeschwerden durch den Druck des wachsenden Bauches auf das Zwerchfell. Auch hier kann wieder Bl 17, diesmal als Zwerchfell-Shu-Punkt, eingesetzt werden und zusätzlich Bl 25, wenn der Kopf des Fötus zu sehr auf die Nerven im Beckenboden drückt und Lumbago erzeugt. Eine Woche vor dem errechneten Geburtstermin kann man damit beginnen, die Hüften zu entspannen. Der Hauptpunkt zur Öffnung des Leistenbereichs ist Le 4. Gleichzeitig kann man den Gallenblase- Meridian am Bein mit Moxa behandeln.

Schwangerschaftsprobleme im ersten Schwangerschaftsdrittel

Der fehlende Zwilling

Hier werden durch den Tod eines Zwillings sehr häufig auf der Zellebene traumatische Erfahrungen eingeprägt. Es kommt zu:

  • Ekel vor dem Absterben des Zwillings im Fruchtwasser,
  • Schuldgefühlen, die unerklärlich sind,
  • einer unter Umständen lebenslangen Todessehnsucht,
  • einer Bewegungshemmung (sich weit weg vom toten Zwilling zusammenzuziehen),
  • Beziehungsschwierigkeiten (Niemand scheint so vertraut zu sein),
  • Sinnlosigkeit («Was soll das alles ohne meine fehlende Hälfte?»)

Hinweise in der Diagnostik sind:

  • starke Blutungen der Mutter in der Frühphase der Schwangerschaft,
  • ein ständiges Gefühl, dass etwas fehlt,
  • Therapie-resistente Probleme wie lebenslange Beziehungsstörungen oder Todessehnsucht und schwerwiegende Schuldgefühle.

Allerdings muss man sich bewusst sein, dass es zu einer Art Modeerscheinung geworden ist, einen verlorenen Zwilling zu haben. Dies ist aber in sehr vielen Fällen nicht so. Allerdings muss man für diese Tatsache offenbleiben. Darauf weist meistens der Muskeltest, der als Zeitpunkt der Entstehung eines Problems das erste Schwangerschaftsdrittel angibt.

Eine weitere Möglichkeit zur Traumatisierung in der Frühphase ist jegliche Form von versuchtem Abort, was tiefes Misstrauen gegenüber der Mutter hervorrufen wird. In späteren Schwan- gerschaftsphasen kommt es oft zu Störungen durch Fehlernährung oder Vergiftung in Folge von Alkohol- oder Drogenmissbrauch durch die Mutter, bzw. bei körperlichen Erkrankungen.

Auch der psychische Zustand der Mutter wird sich auf das Kind übertragen, wie zum Beispiel Ablehnung oder starke Ängste um das Kind, besonders nach vorangegangenem Abort. Dadurch werden die Erfahrungen von Urvertrauen und Geborgenheit tief erschüttert und verbleiben als unverarbeitete Ängste im Körper. Dies kann sich nachgeburtlich als Hyperaktivität und ständige Unruhe bzw. als Prädisposition zu Süchten bei entsprechendem Substanzmissbrauch der Mutter ausdrücken.

Kommt es zur Frühgeburt im dritten Schwangerschaftsdrittel, fehlen die entsprechenden Schwangerschaftsmonate und müssen dann postnatal nachbearbeitet werden. Meistens kommt es bei Frühgeburten zu einer tiefgreifenden Störung der Leberfunktion, die insbesondere angesprochen werden muss, um die Folgen der Frühgeburt zu beseitigen, zusammen mit der Behandlung der Gao Huang-Punkte, die bei jeder Form von intrauteriner Störung in Frage kommen.

Die Bücher «Den Geist verwurzeln» Band 1-3 von Josef Viktor Müller sind in unserem Shop erhältlich.

Zum Shop